Augen zu und zu kurz gesprungen

Augen zu und zu kurz gesprungen

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vertagt die Lösung der drängendsten Probleme

 

Einige Probleme gesehen, aber zu kurz gesprungen und etliches verdrängt. So könnte ein Kurzfazit des Koalitionsvertrages lauten. Es gibt zwar durchaus Ansätze wie eine verschärfte Mietpreisbremse, eine verweigerte Steuerentlastung für die Unternehmen und die höheren Einkommensbezieher, höhere Finanztransfers, höhere Rentenleistungen, neue Unterstützungen für Familien und Eigenheimkäufer, die Energiewende wurde immerhin bestätigt. Aber die dadurch ausgelöste Stärkung der Binnenwirtschaft hält sich in Grenzen, die Demokratie wird nicht weiterentwickelt, die Festlegungen zur Ökologie spotten jeder Beschreibung und die soziale Ungleichheit bleibt weiterhin ein Hindernis für die Entfaltung der gesellschaftlichen Ressourcen.

Eine neoliberale Politik mit Steuersenkungen, Sparpolitik und Umverteilung zulasten der Lohnabhängigen und Bürger*innen konnte die Union nicht mehr durchsetzen. Damit haben SPD-Politiker*innen und viele Beobachter*innen Recht: Der Koalitionsvertrag trägt eine sozialdemokratische Handschrift. Schon in der letzten Legislaturperiode hatte die SPD mit Mindestlohn, Mietpreisbremse oder der Rente mit 63 erste Ansätze durchgesetzt. Diese Ansätze und Themen sind ausgebaut worden, bleiben aber hinter den Erfordernissen weit zurück.

Ein paar Schlaglichter: Der soziale Wohnungsbau wird fortgesetzt, aber nicht ausgebaut – so wird die Wohnungsnot nicht behoben. Das angekündigte Baukindergeld ist ein Mittelstandsgeschenk: es dient dem Vermögensaufbau, nützt aber nicht gegen die Wohnungsnot. Für Europa hat die Groko viele warme Worte, aber kein Bruch mit der Sparpolitik im Angebot. Die Bekämpfung von Fluchtursachen gibt sie als offizielles Ziel aus, aber ein Stopp von Waffenexporten, Aufrüstung, Kriegseinsätzen oder der Zusammenarbeit mit Diktaturen ist mit ihr nicht zu machen. Im Vertrag ist viel von Zusammenhalt die Rede, aber eine Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen oder wirksame Schritte gegen Altersarmut sind in ihm nicht vorgesehen. Die 8.000 zusätzlichen Stellen in der Pflege stehen einem Bedarf von mindestens 70.000 Fachkräften gegenüber; dazu sind über 20.000 Stellen der niedrigen Löhne wegen unbesetzt.

Klare Kante zeigt die neue Groko gegen die Schwächsten: Flüchtlinge sollen noch mehr schikaniert und schneller abgeschoben werden, die Liste der sicheren Herkunftsstaaten wird ausgedehnt, Abschiebungen werden beschleunigt. Polizei und Geheimdienste werden deutlich aufgerüstet. Für den Klimaschutz wurde das Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken, einfach aufgegeben. So markiert der Koalitionsvertrag die Unmöglichkeit eines sozial-ökologischen Politikwechsels ohne Bruch mit dem finanzmarktgetriebenen Wirtschaftsmodell.

Nicht zuletzt gibt es keine neuen Konzepte, Gestaltungsprojekte oder gar Visionen; stattdessen 105 Prüfaufträge und 15 Kommissionen auf 177 Seiten – rekordverdächtig im Hinblick auf das Vertagen von Entscheidungen. Damit wird der bisherige Modus technokratischer Verwaltung – trotz aller Beteuerungen, dass nun wirklich eine Erneuerung anstehe – fortgesetzt.

 

Helge Meves, arbeitet im Bereich Strategie & Grundsatzfragen der Bundesgeschäftsstelle