Berlin ist arm aber sexy - das ist Quatsch

Pfandflaschensammler in Not bekommen davon keinen Orgasmus. Transferleistungsempfänger*innen stöhnen nicht aus Lust, wenn der Geldautomat am Monatsende nichts mehr hergibt.

 

 

Ich sehe: Berlin verarmt an Menschlichkeit und sozialen Strukturen, die diesen Namen auch verdienen. Das ist nicht sexy, das ist abstoßend, eklig und unerotisch.

Ich sehe sie: Flaschen sammelnde Armutsrentner, verwahrloste Obdachlose, stinkende Bettler*innen, heimatlose Osteuropäer, heruntergekommene Behinderte, verlorene verwaiste Seelen. Ich sehe sie: In Bahnhofshallen, an Bushaltestellen, in S- und U-Bahnen, auf Flughäfen, in den langen Korridoren der Ämter, in den Foyers der Banken, in ausgeräumten Bürohäusern, auf verwilderten Brachen, in dunklen Hinterhöfen, unter alten und neuen Brücken. Ich sehe sie: In Stätten des Durchgangs, des Nirgendwohingehörens, der vagen Erwartung, der geheimen Angst, dass Erhofftes nicht kommt, dass das Vorläufige sich als endgültig erweist, dass Heimkehr unmöglich ist. Ich sehe sie: Wartend, dass sich etwas ändert: an der Gegenwart, der Zukunft, dem Schicksal, an ihnen, an anderen, dem Leben an sich, der Gesellschaft. Sie warten auf Gedeih und Verderb, Gnade oder Ungnade, empfunden als Tragik, Absurdität, Freiheit, Emanzipation, je nach Vitalität. Ich sehe sie: Viele von ihnen waren einst Teil der Gesellschaft. Sie funktionierten, waren Zahnräder im gut geschmierten kapitalistischen Getriebe, bis sie – aus welchen Gründen auch immer - versagten und als Humankapital wertlos wurden.

Ich sehe die anderen: Die vielen, die meinen, es gäbe nichts zu bessern, zu heilen, umzuwandeln, zu resozialisieren, zu integrieren, es müsse nur richtig abgeschreckt werden. Brauchen sie diese schwarzen Schafe nicht doch als dunkle Folie, von der sich ihre bürgerlich-christliche Wohlanständigkeit umso heller abhebt?

Ich sehe die Entscheidungsträger, die etwas ändern könnten. Sie warten ab, wollen sich aus der Verantwortung stehlen: Ihr Warten ist eine taktische Geste.

Ich sehe sie alle: Weil ich Fotograf und Mensch bin und weil ich sehen will und muss.

Orlando El Mondry