Berlins neue Zwanziger

Den Goldenen Zwanzigern galt Berlins Mitte als sündige Metropole für Künstler, Prostituierte, Geschäftemacher, Reichsmark, Nachtleben, Varietés, Gasthäuser, Kneipen. Weltbekannt Friedrichstraße und Linden, folgenschwer Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Verelendung, Faschismus, Krieg. Seit 20 Jahren das neue Jahrtausend, Thema der jetzigen Zwanziger: Das Klima. Auch Berlins Mitte konsumiert, baut, isst, entsorgt umweltbewusster. Dämmen Mietendeckel die Armut? Digitalisierung frisst Strom. Riesenlettern und grüne Striche markieren die Linien- als Fahrradstraße, gegen rasenden Berufsradverkehr helfen nur breite Autos. Fußgänger rennen. Bevölkerungs- und mentaler Wandel, kulturelle und ethnische Vielfalt überfordern auch Volksrepräsentanten. An Fußgängergerechtigkeit mangelt’s der Verkehrswende, für längeres Fußgängergrün braucht die Verwaltung Jahre. Hinreißend finde ich das berlinernde Weltkulturerbe-Begehr des ÖPNV, doch in Tor- und Rosenthalerstraße fehlen Haltestellen. Stau und Ampel regeln in der Invalidenstraße Tempo 30, für 300 Meter Friedrichstraße und die Linden wollen Bezirk und Senat für´s urbane Flanieren Autoverbote, doch ohne Investitionen in verlockende Schaufenster, Kinos, Schwatz- und Tanzbuden, Clubs, Kellertheater, Nachtcafés und sündige Gastronomie kein dichtes Gedränge. Heute trinken glückliche Touristen am Gendarmenmarkt Münchner Bier, empfängt das Konzerthaus nicht über seine Freitreppe, fällt abends nach dem letzten Ton das Publikum stumm auseinander, so ist städtische Ödnis. Letztens pendelte die U7, fuhr die M1 ab, als wir uns näherten, kaum Menschen, doch Dussmann und McDonald’s strahlten. Mit der Tram ist das Leben nah, zwischen Hackescher Markt und Rosenthaler Platz wird auch gewohnt. Wo nachts Window-Shopping, Falafel, Kaffee, Döner, Burger, Brezeln, Kuchen, Reisrollen im Vorbeigehen möglich sind, wo die halbe Welt kocht, eilt und isst, wo jugendliches Volk erstaunlichste Garderobe trägt, da lässt sich gut verweilen. So steht, sitzt, plaudern sie auch vor den Spätis und eng auf Bürgersteigen. Heute riechen Monbijoupark, Weinberg, sogar der Koppenplatz nach Cannabis und Alkohol, alles im U-Bahn-Umfeld zu erwerben. BVV und Ordnungsamt sind nicht zuständig, die Polizei ordnet, erteilt als Freund und Helfer bei Lärm nachts Platzverweise, wird trotz Personalmangels, obgleich kein Kriminalitätsschwerpunkt, hier 2020 vermutlich mehr patrouillieren. Inmitten des Trubels übernachten Obdachlose vor den Häusern.

Irene Runge