Die Winterklage

Berlins Charme ist wetteranfällig. Die ersten Wochen des neuen Jahres wird gemeckert. Man rutscht, hustet, schnupft und amüsiert sich. Die Tage tragen hässliches Grau, Abende sind finster, gelegentlich stürmt es weiße Flocken. Trottoirs glänzen in schmuddligem Regenwasser. Was Kunst- und Kulturnischen angeht - der Zulauf ist gewährt. Bücher, Fernsehen und Kino trotzen der falschen Erinnerung, dass das frühere Berlin im Winter eine dicke Decke aus Schnee trug.

Der Berliner Winter war zumindest zwischen 1895 und 1900 nicht anders als heute. Das notiert Alfred Kerr in seinen „Berliner Briefen“, die ich im Antiquariat Ackerstraße erwarb. Er lästert, ziseliert, verallgemeinert, tratscht, kritisiert, lobt, verlacht. genießt und verreißt Winterbälle, Ausstellungen, Theater, Skandale, Korruption und Ehebruch. Berliner Piefigkeit blüht, politische Ranküne und Intrige sind ihm allgegenwärtig. Berlins bürokratischer Mief stört, und die Potsdamer Straße wird wegen zunehmenden Verkehrs erweitert. Man flaniert, wirft Blicke, geht ins Café. So ist das westliche Berlin, dazu gehören Potsdamer Platz, die Linden nebst Umgebung und der weite Gendarmenmarkt. Man ist zu Diners eingeladen. Das Bürgertum stellt sich aus. Fontane ist noch da. Der Kaiser regiert. Kleider machen Leute. „Seltsam verfließt das Leben in dieser abendlich dunklen, doch von erleuchteten Fenstern melancholisch beleuchteten Stadt.“ 

Melancholie! Dabei hat sich Berlins Mitte gerade zur Fashion-Week verkleidet. Dünn aufgeschossene Männer bibbern, verkürzte helle Nankinghosen lenken den Blick auf schmale Fesseln, knappe Weißsocken scheinen dem Schuh verwachsen. Man trägt nacktes Bein. Die Berliner Kälte beißt in die Waden. Als weibliches Pendant gibt es dunkle Marlene-Hosen zu weißen Sneakers. Breite Mäntel wehen.

Auch die Hochkultur lässt sich feiern. Der Bebel-Platz ist wie früher von rosiger Staatsoper und Kommode gesäumt, aus Betonquadern werden Bänke werden. Ich gehe ins Mittagskonzert. Im Boulez-Saal spielen Barenboims begnadete junge Musikerinnen und Musiker Barock und Romantik. Das bürgerliche Publikum applaudiert begeistert. Wohin geht man im Januar zum Lunch? Ein Alfred Kerr würde es wissen.

Irene Runge