Die Zeit macht Druck

Fast 10 Monate von 2016 sind vorbei. Bald sind sie Geschichte. Antizyklisch hoffe ich, der schöne Herbst möge andauern. Praktischer ist der Gedanke, jeder Winter endet im Frühling. Früher sagte man: Einbildung is' och'ne Bildung und meinte Wirklichkeit versus Illusion. In schwarz-weißen Kinobildern von früher ist Berlins Mitte weltgewandt. Die Gegenwart ist ein Farbfilm. Nicht Berlin, sondern Manhattan und London stemmen mit Witz und Macht die heutigen Herausforderungen. Stadt kommt eben nicht von Statik. Was Touristen gefällt, muss Bewohnern nicht lieb sein. Teuer ist es allemal. Im Vergleich zu jenen Metropolen wirkt Berlins Mitte heute menschenleer, aber gefühlt platzt alles aus allen Angeln.

Contenance! Contenance! Das meinte einst Gelassenheit, Gemütsruhe, und: Haltung bewahren. Heute geht es mancherorts sehr wortlos grob, gröber, am Gröbsten zu. Auf der Liebknechtstraße pöbelte einer, ich in meinem Alter wisse wohl nicht, was Facebook sei, und drängte mir seine Deutung eines Plakats auf. In der Kaufhalle schrie ein Mann, und schob ungeduldig seinen Einkaufswagen in meine Hacken, Hausfrauen wie ich seien zu blöd zum Einkaufen. Hausfrauen!? Das Wort gab es im Osten nicht. Die grauen Männer jenseits der Lebensmitte haben es auch nicht leicht. In meiner Umgebung dominieren die höflichen Jüngeren. Vor allem, wenn englisch gesprochen wird. Aber auch im "Gorki-Park", wo russische Inschriften stehen und nicht nur Blinis unschlagbar gut sind. Für diesen Genuss bedurfte es des Besuchs einer Freundin aus San Diego, die seit Jahren über Kafkas letzte Geliebte Dora Diamant arbeitet. Dora hat irgendwo in Tiergarten gewohnt, sagte Kathi, während sie köstliches russisches Rührei verspeiste. Ihr Buch ist auch auf Deutsch erschienen.

In Nebenstraßen erinnern blasse Wahlplakate noch an gestrige Realitäten. Noch nicht plakatiert ist, wie die neuen Koalitionäre und Koalitionärinnen die Stadt packen wollen. Es geht um Alternativen. Die AFD ist keine. Wer also domestiziert brutale Radfahrer, die Bürgersteige präferieren? Wer hat Radwege erfunden, die Straßenbahneinstiege gefährden? Am Nordbahnhof und am Weinbergsweg bangen die Tramfahrenden um ihr Leben. Und den Dreck in der Linienstraße zwischen Haus 201 und 202 gibt es schon seit der Vorwahlzeit.

Irene Runge