Erinnerungen und schwebende Kühe

Im Oktober war es sonnig, im November ist`s meist kühl, nicht kalt, grau, nicht hell. Früher schenkte man im November Chrysanthemen, früher wurde über Pogrome und Revolutionen gesprochen, doch Blumen und Themen sind andere geworden.

In der Oranienburger Straße wird hinter mir gelacht. Vorn nähert sich ein Hund. Dessen Besitzerin bellt: Verpisst euch! Was für ein Ton! In der Straßenbahn bittet ein Mann meines Alters um einen Platz. Ich stehe auf, die sonst noch Sitzenden sind erheblich jünger. Eine Frau schreit jemanden an. Dabei ist es ihr Fahrrad, das Ein- und Ausstiege blockiert. Grobheiten nehmen zu, Freundlichkeiten nicht minder.

In der Mitte von Mitte meidet meine Generation das hippe Straßenleben und dessen Versuchungen. Donnerstags ist Markttag, da strömen gut gelaunte junge Werktätige zum Hackeschen Markt, zu Streetfood und Musik. Sind sie Teil der Million prekär Beschäftigten in Deutschland, als selbstständig, Kleinunternehmer, Crowd- oder Clickpeople bezeichnet? Geduldig stehen sie in der Schlange. Rundliche Köchinnen mit Kopftuch bereiten geschickt die gute türkische Hausfrauenkost zu.

Essen ist heute eine der Berliner weltstädtischen Errungenschaften geworden. Zur 4. Berlin Food Week kamen Foodies ins Kaufhaus Jandorf. Im einstigen DDR-Modeinstitut ließen sich sogar aufgeblasene Kühe gewinnen - sofern man wusste, dass ein Euter vier Zitzen hat und Kühe Heu fressen. Den Mann am Milchstand freute der Andrang. Die euterlosen Kühe schwebten, für Menschen gab es kulinarische Kostproben, Minibecher voll gesunder Flüssigkeit, frischen rohen Fisch aus Panama, fairen Kaffee, Tipps zum nachhaltigen Leben, Kuchen aus Linsen mit Schokolade, Rezepte. Das Naschen gefiel. Jung, älter und alt wurden temporäre Geschmackspartner.

In Warteschlangen des kulinarischen Paradieses entstehen Vorfreude und kommunikative Nähe. Darüber wurde geredet, auch darüber, wer im Steakhaus Torstraße kochen wird, vis-a-vis vom kurdischen Iraker, Ecke Gartenstraße, nahe von „Die Gärtnerei“… Am Zionskirchplatz soll, so hieß es, „Der Hahn ist tot“ sein witziges Ambiente mit französischen Menüs paaren. Früher war hier die Haltestelle. Früher gabs hier den Laden für Angel- und Aquarienbedarf. Das ist vorbei.

Irene Runge