Es ist die alte Leier

Ist es neue Lebenslust, die ungeniert Straßen, Gewässer, Plätze, Biergärten, Parks, Restaurants, Dönerbuden und Cafés zurückerobert? Für die Draußengastronomie braucht’s besseres Binnenklima, das denke ich, aber ich habe mir den Fuß vertreten, Spaziergänge entfallen, also lese ich und sehe fern, erfahre so, dass Mitte - meint das Wedding und Tiergarten - derzeit die höchste Corona-Inzidenz Berlins habe. In Neukölln erklärten Politik und Medien das mit arm, migrantisch, kinderreich, arbeitslos, beengt wohnen, in Mitte schweigt man sich aus. Doch nicht nur Armut, auch Ober- und Mittelstand, WGs, Kleinfamilien, Singles gibts überall. In Altmitte bewirkte Bevölkerungsaustausch nach 1990, dass keine drei bis vier Generationen ums Eck, in einer Straße, einem Haus, gar einer Wohnung leben, enge verwandtschaftliche Nähe bietet hier der Wedding: Eingewanderte Großeltern, hier aufgewachsene oder schon geborene Eltern, Tanten, Onkel, Berliner Söhne und Töchter, deren Kinder, Kindeskinder, Traditionen, Sprachen, herzige Wärme, Wangenküsse, Umarmungen, nachbarliches Füreinander, auch Streit und ungerecht verteilte Last. Unsereins findet in Wohnungsnähe die Wahlverwandtschaft. Die Pandemie zeigt, dass es kulturell und psychologisch fast unmöglich ist, sich längere Zeit aus-, ein- und abzugrenzen. In Altmitte ließ sich dabei mit Distanz und Zuversicht auch über politische Präferenzen, Radstraßen, Religionen, vermülltes Grün, Cafés, Restaurants, Tingeltangel, Kino, Theater, Kunst, Clubs, den Lifestyle mit und ohne Kinder debattieren, die Ko-Existenz von Fahrrad und Fußgängern auf der Friedrichstraße war der Politik wichtig, Autoverbote, Holzbänke, Kräuterhochbeete, kein Urban gardening. In der öden Friedrichstraße hat sich das Flanieren für mich längst erledigt. Pappbecher, Berliner Luft, nichts zu sehen - das gibt es auch anderswo. Ums Oranienburger Tor ist zumindest der Baulärm nicht zu überhören, sind Baustellen nicht zu übersehen, die Autos ausbremsen. Spahns Ministerium wird aufgestockt, am Durchgang zum Tacheles-Gelände sind viele Fenster eingebaut. Das pompöse Telegrafenamt ist heller geworden, Tschobans langes Gebäude in der Rosenthaler ergibt drei verschiedene Häuser. Wenn dereinst Restaurants, Cafés, Läden und Fotomuseum öffnen, werde ich mich wohl immer noch fragen, weshalb Altmitte nichts gegen fehlgeschaltete Ampeln, zu wenig Haltestellen, WCs, Mülleimer und Fahrräder auf Bürgersteigen unternimmt. 

Irene Runge