Frühes Ahnen, spätes Wissen

Alle reden übers Wohnen. Doch das Bauen dauert. Die Natur blüht, weisse Sneaker sind in, verliebt ins heutige Berlin füllen nicht nur Touristen Hof- und Straßencafés. Zurück aus Londons City wirkten Bürgersteige und Fahrbahnen plötzlich menschen- und autoleer, öde, ärmlich, ungeliebt, ungepflegt. Dort schoben tausende E-Busse neben Autos durch enge Straßen, drängten Menschenmassen in und aus der „Tube“, der dortigen U-Bahn, sah ich vom Bus-Oberdeck erste Reihe Leute dicht an dicht eilen, Busse seitenverkehrt schlängeln, helle Häuser, die an gute frühere Zeiten erinnern. Wie aus dem Nichts tauchen jetzt gewichtige Hochhäuser auf. Londons Silhouette ist verändert. Schockierend bleiben die Preise, aber die Parks und Grünanlagen sind eine Augenweide. Nach Einbruch der Dämmerung werden sie verschlossen. Londons Mitte wirkt diskret. Dafür sorgen auch Herren in hellem Hemd und Anzug, bei Kälte mit Schal. In Berlin-Mitte ist dieser Typ jünger und gegen Mittag zwischen Friedrichstraße und Unter den Linden unterwegs. In Londons City stehen nach Feierabend große und kleine Gruppen, auch Frauen, mit dem Bierglas in der Hand vor den Pubs. Gewohnt wird in Vororten. Brexit hin oder her. Londons historisches Stadtgefüge und Bevölkerungsmix, altmodischer Charme, leichte Exzentrik, heimische Küche und kulinarische Highlights - all das beeindruckt mich. In Berlin-Mitte ist Bier billiger, auch das Wohnen, Neu- und Umbauten werden auch sozial geplant, es muss verdichtet und aufgestockt werden, doch ein demokratisches Wenn und Aber hemmt diese Entwicklung trotz der jährlich 40 000 Neuberliner. Wie bisher ist Oranienburger Nummer 46/47 unbewohnt, auch Sophienstraße 34, in der Kleinen Auguststraße steht auch ein Haus leer… Am Ende des Umbaus der Kinderplansche Nordbahnhof gibts weiterhin kein öffentliches WC, was nicht nur Kinderbedürfnisse zum öffentlichen Ärgernis macht. Und dann die Ampelschaltungen! Der rot-grün-rote Rhythmus Rosenthaler-, Acker- und Torstraße, Weinbergsweg und Hackescher Markt ist weder menschen- noch autogerecht, was kreischende Bremsen, klingelnde Bahnen, fluchende Rad- und Autofahrer, rennende Touristen, irritierte Senioren belegen. Das heutige urbane Leben schafft neue Gewissheiten. Widerstrebende Interessen sind multipliziert. In London gibts die teure Auto-Maut. Da wird gnadenlos elektronisch erfasst und sanktioniert, wer ohne fährt. Das frühe Ahnen geht dem späteren Wissen voran. Wie bereitet sich Berlins politische Mitte praktisch auf den bereits stattfindenden Umbruch in der Lebensqualität vor? Ich kann das nicht erkennen. 

Irene Runge