Gedanken zum 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus

Ich habe nie verstanden, dass die Generation, die das Grauen des 1. Weltkrieges miterlebt hat, nach nur 21 Jahren bereit war, in den 2. Weltkrieg zu ziehen. Man zweifelt am Verstand einer ganzen Generation, eines ganzen Volkes.

Die Befreiung der Welt vom Faschismus – das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts - ist jetzt 75 Jahre her. Doch immer noch ist Faschismus nicht etwas Vergangenes. Er ist wieder Alltag in Deutschland und in Europa. Wieder werden die gleichen Hetzreden gehalten, wieder werden Menschen gedemütigt, geschlagen und sogar ermordet. Was haben wir falsch gemacht? Warum haben die Bücher, Filme und Gedenkstätten die Menschen nicht gegen den Faschismus immunisiert? Bildung allein reicht nicht!

Es gibt einen sehr klaren Zusammenhang zwischen der herrschenden Politik und dem Erstarken des Faschismus. Die Verfechter des Neoliberalismus, die Marktgläubigen, haben in den vergangenen 30 Jahren eine brutale Umverteilung in Gang gesetzt. Gleichzeitig haben sie Teile der sozialen Infrastruktur zerstört. Wir leben jetzt in einer kapitalistischen Mangelwirtschaft. Natürlich kann man noch 1000 verschiedene Lippenstifte kaufen, doch Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Kranken- und Pflegebetten sind Mangelware. Gerade in Zeiten der Coronakrise zeigt sich, wie wenig der „freie Markt“ in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der Menschen zu sichern. Unter solchen Bedingungen haben faschistische Parteien wie die AfD leichtes Spiel. Sie lenken mit Hetzreden gegen Ausländer, Obdachlose, Frauen und Minderheiten von der kapitalistischen Misswirtschaft ab.

Wenn heute in der offiziellen Geschichtsschreibung von den zwei Diktaturen gesprochen wird, dann geht es auch darum, von dem engen Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus abzulenken. Der Faschismus findet seinen Nährboden in dieser kapitalistischen Gesellschaft. Deshalb müssen wir die Gesellschaft ändern, wenn wir den Faschismus für immer beseitigen wollen.

Wir haben in diesem Jahr wie in jedem Jahr den Antrag an den Bundestag gestellt, den 8. Mai zum gesetzlichen Gedenktag zu erklären. Dank der Berliner Landesregierung wird der 75. Jahrestag der Befreiung in der Hauptstadt ein Feiertag sein. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen ist der Tag der Befreiung bereits ein Gedenktag. Wir werden diesen Tag immer feierlich begehen – unabhängig davon, wie Union und SPD abstimmen.

Wir wollen, dass sich Menschen mindestens an einem Tag im Jahr die Zeit nehmen, um über die Ursachen des 2. Weltkrieges zu diskutieren und der über 50 Millionen Toten zu gedenken. Die größten Opfer haben die Völker der Sowjetunion erbracht. Das wollen wir nicht vergessen. Das sollte auch die Bundesregierung nicht vergessen. Ihre Politik gegenüber Russland ist geschichtsvergessen. Sie will nicht verstehen, dass ein friedliches Europa nur mit Russland möglich ist. Gerade Deutschland muss Vorreiter bei der Lösung von Konflikten mit friedlichen Mitteln werden. Das ist eine Kernforderung der LINKEN und macht uns unverwechselbar.

 

Gesine Lötzsch

 

Terminhinweis: Die Bundestagsfraktion wird am 8.Mai, um 18 Uhr, eine Sendung zum Tag der Befreiung auf www.linksfraktion.de im Livestream zeigen.