Höchste Zeit für eine europäische Öffentlichkeit

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Europamüdigkeit. Der göttliche Stier, der die phönizische Prinzessin einst an griechische Gestade entführte, scheint seiner Eroberung zunehmend überdrüssig. Doch die Falten und Runzeln der Europa sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es noch immer mit einer wunderschönen Braut zu tun haben. Die Idee eines Staatenbunds, der sich zusammentut, um Kriege zu verhindern und Wohlstand für alle zu mehren, hat nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt.

Doch wer derzeit einen Blick auf die Europäische Union wirft, wird sich des Eindrucks einer kulturellen Schizophrenie kaum erwehren können. Auf der einen Seite eine stetig anwachsende Schar grenzüberschreitender Pendler und europäischer Studenten, die sich ihre Ausbildung von Lissabon bis Warschau  nach eigenen Gesichtspunkten zusammenstellen. Auf der anderen Seite eine Verordnungskrake, die Görlitzer Bäckern das Herstellen von »Schlesischen Streuselkuchen« verbietet – und einem ganzen Kontinent die Glühbirne. Was überwiegt – das Europa der Chancen oder das Europa der Hindernisse – kommt meist auf den eigenen Standpunkt an – und die eigenen Interessen. Wenn Europa ihr angekratztes Image verbessern will, wird es höchste Zeit, diese Interessen wieder ernst zu nehmen – statt einfach den Zeigefinger zu heben und wie Oma vom Krieg zu erzählen.

Ob Europa wieder sexy wird, hängt stark von ihrer Fähigkeit ab, den Zeitgeist ihrer Bewohner zu erspüren und sich gemeinsam mit ihnen zu verwandeln. Ein solches Erspüren aber geht nicht ohne die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit. Nicht Politiker, sondern Bürgerrechtler, Künstler, Aktivisten und Medienschaffende sind es, die in den einzelnen Staaten für eine stetige Neuverhandlung der Gesetze und der Normen eintreten – und diesen auch gegen den Willen ihrer Regierungen zum Durchbruch verhelfen. Europa aber fehlen diese basisdemokratischen Kräfte. Solange wir uns in erster Linie als Deutsche, Griechen und Franzosen begreifen, wird der Traum von einem gemeinsamen Europa ein Gedankenspiel intellektueller Eliten bleiben.

Es wird Zeit für ein neues Gespenst in Europa: den europäischen Bürger, der durch sein Engagement, seine Mitbestimmung im politischen Prozess und die Anwendung seiner Werte auch in der Außen- und Handelspolitik das weiterentwickelt, was ihm seine Berufspolitiker durch Überwindung von Waffengängen und Zöllen hinterlassen haben. Europa hat nur dann eine Chance auf Zukunft, wenn es sich – dem neuen Zeitgeist folgend – aus den Klauen von Lobbyisten und Spekulanten befreit; diesen neuen Raub der Europa durch die Demokraten aller Länder gilt es so schnell wie möglich durchzuziehen.


David Salokin