Kommt Zeit, kommt Rat ...

So redeten die Alten im russischen Märchen. Sie sagten auch, der Morgen wäre klüger als der Abend. Heute heißt es Time is Money. Das hastige Ampelgrün, Abstände zwischen Tram-Haltestellen, das rare Erscheinen von Bus 142 - alles meine Probleme. Jüngere radeln. Gemeinsam wissen wir, dass die hässliche Torstraße jetzt kulinarisch bedeutsam ist. Das neue Schmankerl heißt "Tigris", auch auf Arabisch und Hebräisch zu lesen. Die nordöstliche Ecke Gartenstraße duftet nun von 11 bis 24 Uhr nach Orient. Starke Männer brutzeln nordirakische, sprich kurdische und arabische Hausmannskost.

Kein Trost ist das für heimatlos gewordene Rauchende, die nach 26 Jahren ihr "Village Voice" in der Ackerstraße verloren haben. Schon bauen Nächste an neuer Gastronomie, es sei denn, sie schaffen hier Raum für Klamotten, Fitness, Kita oder Büro. "Coming soon", heißt es Große Hamburger/Ecke Sophienstraße, wo das Design mir Lust auf soups, beets & roots, bowls, wraps, juices macht. Das weggetretene Straßengrün gehört vermutlich der WBM.

Entzug werde ich spüren, wenn die Ackerhalle alias Rewe-Markt am 4. November für einen Monat schließt. Sie soll erweitert, verjüngt und verschönt werden. Sushi bleibt, Starbucks und deftiger Mittagsimbiss kommen. Ich erwarte mehr frischen Fisch in alter Markthallenarchitektur. Auch die Halle am Alex verspricht längst ihre Neugeburt.

Letztens haben zwei Grazer Filmemacher hier 24 Stunden Zeitgeschichte und Gegenwart vor der Weltzeituhr dokumentiert. Die Uhr und der Brunnen der Völkerfreundschaft haben aber keine Programmatik mehr. Die vollgestopfte Ödnis verdeckt die Vergangenheit der DDR und die der Döblins und Biberköpfe. Der schöne Mythos mitten in der Stadt nutzt dem Tourismus, der Sparkasse, Kaufhäusern, DM's und Berlinsouvenirs. Wenig zum Verweilen. Eilig wird unter- wie überirdisch ein- und umgestiegen oder gequert. Der Platz ist Gruselabenteuer für Ortsfremde, dient dem Leutesehen, Luftschnappen, prallen Tüten, Vorbeigehenden, Herumsitzenden, Musikanten, Obdachlosen, Gauklern, Bettlern und Taschendieben. Die schlichten Buden sind zu jeder Jahreszeit jedem Anlass gefällig. Die Grazer entdeckten ein bierseliges Alex-Oktoberfest und fragten an der Uhr nach Lebenserinnerungen. Sie bekamen viel Politisches zu hören. Ich hatte fast vergessen, dass der Alex auch dafür steht.

Irene Runge