Mit "mittendrin" nach Ochsenfurt

Dass der kleine linke Verlag "Kulturmaschinen" aus Berlins Mitte jetzt im bayrischen Frankenland agiert, ist bemerkenswert.

Ich fuhr kurzentschlossen zum Eröffnungsfest ins beschauliche Ochsenfurt. Nicht nur der Charme der "Kemenate" überraschte mich, so heißt der Kulturraum des historischen Wohn- und Arbeitshauses, dessen Geschichte am Eingang dokumentiert ist. Was im 16. Jahrhundert als jüdisches Bet- und Gasthaus begann, brannte ab oder wurde abgefackelt, neu und umgebaut, ge- und verkauft. Dann waren Handwerker, Metzger, auch ein Fahrradladen hier zu Hause, bis es als Arztpraxis vor einigen Jahren aufwändig restauriert wurde. Jetzt hat sich der Verlag von Simone Barrientos eingemietet und ist dabei, hinterm alten Rathaus einen Kulturtreff zu etablieren. Der Bürgermeister und über 250 Eröffnungsgäste aus Stadt und Land zeigten, wie begeistert sie von ihr und ihrem schreibenden Partner Leander Sukov sind, weil sie den Ort literarisch und menschlich bereichern. Mein Geschenk war eine Lesung kleiner Texte aus "mittendrin". Meinen teils skurrilen Erlebnissen aus Berlin Mitte wurde gern zugehört und applaudiert. Und so gut wie beim Ochsenfurter Italiener habe ich selten gegessen!

Wieder in der Hauptstadt schwärmte ich von der Provinz, wo mir der Herbst bunter und die Äpfel knackiger schienen, doch anders als Ochsenfurt mit 13 000 Einwohnern vergesse ich in Berlins Mitte meine kulturellen Interessen in der Vielfalt des immer Neuen. Wo war ich vorgestern? Wie sah es hier gerade noch aus? Beim Spaziergang durch die Torstraße entdecke ich in der grauschwarzen Architekturperle am nördlichen Rosa-Luxemburg-Platz eine gut besuchte Cafébar. Neu? Noch vor kurzem war das Haus Ziel nächtlicher Hass- und Farbattacken. Auf dem Miniplatz dahinter wächst das nächste aus dem umzäunten Erdreich. Ich gehe an Kleider-, Schuh- und Möbelgeschäften vorbei bis fast ans andere Ende und sehe wie immer in der Torstraße 201 in die Schaufenster des DDR-Neubaus. Obskure Gegenstände weisen auf das "Surreale Museum für industrielle Objekte", eine Ausstellung, die ich noch nie besucht habe, obgleich mir das Design-Panoptikum durchaus gefällt. In Ochsenfurt wäre ich sicher als Dauergast mit den Machern befreundet. In Berlin schiebe ich nicht nur diesen Besuch vor mir her.

Irene Runge