Nahe Fremde und fremde Nähe

Früher las man in der übervollen U-Bahn Zeitung, heute starrt man aufs Handy. Es schminken sich Frauen zu Ende, es duftet männlich-orientalisch oder nach kräuterblumigem Parfüm, Milchkaffee und Croissants. Wird telefoniert, hören alle zu. Touristen schlafen noch. Bald sollen sie auch zentrumsfernere Stadtgegenden erkunden. 

In Manhattan vertreibt brutale Gentrifizierung junge Familien, Kreative, den älteren Mittelstand z.B. ins fernere Brooklyn, wo vor, neben oder hinter sichtbarer Armut in feinste Neu- und Umbauten investiert wird. So ändern sich Sichtachsen und Ansichten, Düfte, Farben, Töne, sondieren Schaulustige Architektur und alte Straßenkunst, Streetfood chinesisch, regional, vegan, vegetarisch, Gourmet-Restaurants und Kaffeehäuser. Jenseits vom Brooklyn Bridge Park prahlt spitz am anderen Ufer Manhattans Skyline, doch Brooklyns Ufer ist grün, hat Blumen und Bäume, Holzschwebebrücke, historisches Karussell, Spielplätze, Bänke, alte Lagerhäuser und den Rest des einstigen Hafens. Die unvergängliche Vergangenheit wirbt mit Zukunft. Touristen strömen mit Subway und Schiff, zu fuß, Fahrrad oder Auto, um das zu erleben.

Ganz anders Berlin. Aus reglementierter städtebaulicher und politischer Geschichte wurde mit deutschem Ordnungssinn gelernt. Kapitaler Wildwuchs scheint gedämmt, die Bevölkerung wächst deutlich kulturell uneinheitlich. Auch im Wedding, in der neuen Mitte, wo es in der Prinzenallee 13 die wunderbare Fleischerei Boucherie Haroun mit „Spécialités Mediterraéennes“ und Ratschlägen auf Deutsch, Französisch und Arabisch gibt. In dieser Gegend tragen Frauen oft lange graue Mäntel und verhüllen das Haar, begutachten schnurrbärtige Männer rituell geschlachtetes Fleisch, mahnt die Schulleitung der Grundschule am Gesundbrunnen am Tor auf Deutsch, Türkisch, Arabisch und Russisch, dass der Schulhof erst ab 13.30 Uhr zur regulären Abholzeit der Schulkinder geöffnet ist.

Nur vier U-Bahnstationen weiter gefallen knappe Röcke und flatterndes Haar, wird in der alten Mitte auf Englisch annonciert, redet man Spanisch, Italienisch, Hebräisch und Japanisch, entschlüsseln Tourguides in der Dircksenstraße übermalte und verklebte Wände der S-Bahn-Bögen auch auf Französisch. Von dort fahren die Straßenbahnen bis in entlegenere Gegenden. Ist das die touristische Option?

Irene Runge