Neue Berliner, neue Lebensart

Der Sommer ist weg. Die Wählerschaft hat zwischen enttäuschender Vergangenheit und vager Zukunft gewählt. Als Schöpfung des Augenblicks gilt das Kürzel LOHAS gleich Lifestyle of Health and Sustainability. Auf Deutsch: Gesunde und nachhaltige Lebensweise. Da hängt mal wieder alles mit allem irgendwie zusammen, selbst wenn niemand das merkt. 

Ein Übersee-Neuberliner wird beim Jackenkauf auf Englisch beraten. Bei Woolworth auf Türkisch und Arabisch. Im Jobcenter muss er Deutsch können. Die Amtskraft staunt, dass deutsche Großeltern kein Wort Deutsch sprachen, nachdem sie als Juden aus Berlin vertrieben wurden. Jetzt kommt der Enkel mit deutschem Pass, will das kulturelle Erbe antreten. Er bewohnt 10 qm Raum in einer WG mit Internetanschluss, Bett, Tisch, Stuhl, 2 Bädern und Küche in einer Zweckgemeinschaft aus sechs internationalen Mietern. Tagsüber lernt er begeistert in der Sprachenschule Deutsch. Das freut das Jobcenter. Eine Eingliederungsvereinbarung ist zu unterschreiben, das Amtsdeutsch nur schwer zu übersetzen. Ich erkläre: Beidseitige Rechte und Pflichten, Jobangebote folgen, Krankenversicherung wird übernommen, Termine sind einzuhalten. Die Beratung erfolgt kompetent und freundlich.

In drei Wochen erlebt mein Neuberliner mehr Berlin als andere in Jahren. Er ist jung, hoch qualifiziert, motiviert, digital und global vernetzt, kennt soziale Kanäle, Sprach- und Herkunftsgruppen, er trifft auf Seinesgleichen bei Fitness und anderswo. Auch Mittes Gastronomie setzt auf die neuen Berliner. Ecke Oranienburger-/Tucholsky-straße doppelt sich im neuen „Lawrence“ (Zusatz: von Arabien) das filmische Wüsten-Epos als stumme Endlosschleife im Schaufenster. Jetzt helles Restaurant, vorher düstere Apotheke, oben (von NGO’s getragen) die Kunstgalerie für arabische und andere Künstler beiderlei Geschlechts, unten kochen syrische Köche bis tief in die Nacht. Auch die italienische Kellnerin ist vielsprachig. Links und rechts vom Lokal entstehen auf großen Arealen Luxusapartments, Büros, Hotels, Restaurants, ein Biergarten, neue Straßen, aber kein Kino. Das Buddeln und Bauen verändert Sichtachsen. Vis-a-vis beim Postfuhramt geht´s auch voran.

Man spürt Umbruch in der Spandauer Vorstadt. Ich finde das spannend. Andere nicht.

Irene Runge