Niemeyers „Spitzbein“ – Modell für Wohnungsbau von heute?

Berlin braucht Wohnungen, bekommt aber ein historisierendes Schloss. Das „Spitzbein“ im Hansaviertel zeigt, dass man in dieser Stadt modern bauen konnte, auch Wohnungen. Das galt mal als schick, war aber schwierig.

Berlin braucht Wohnungen, bekommt aber ein historisierendes Schloss. Das „Spitzbein“ im Hansaviertel zeigt, dass man in dieser Stadt modern bauen konnte, auch Wohnungen. Das galt mal als schick, war aber schwierig.<xml></xml>

Zugegeben, die Situation nach dem 2. Weltkrieg war anders. Durch die Zerstörungen fehlten zehntausende Wohnungen auf einen Schlag. Das Hansaviertel war besonders stark betroffen; bis auf eine Häuserzeile an der Spree war der Bezirk ein einziges Trümmerfeld. Ein paar Jahre später, 1957, weichen die Trümmer den Gebäuden der Internationalen Bauausstellung (IBA). Es entstehen überwiegend Wohnhäuser – 36 Architekten planen je ein Objekt. Weltberühmte Namen sind darunter, Alvar Aalto, Walter Gropius und Oscar Niemeyer. Letzterer entwirft ein Haus auf Stelzen, auch „Spitzbein“ genannt, das unter der Anschrift Altonaer Straße 4-14 zu finden ist. Der Brasilianer, ehemals Assistent von Le Corbusier und bekennender Kommunist, verachtet den rechten Winkel und baut lieber in organischen Formen – wenn man ihn lässt!

Wer zu einer der 78 hellen Wohnungen gelangen will, betritt den separaten Aufzugturm, fährt bis zur fünften Etage (nur dort und im achten Stock halten die Aufzüge!) und wechselt zum eigentlichen Wohnhaus. Nun befindet er sich im Verteilergeschoss, das auch als Begegnungsfläche gedacht ist, und erreicht von dort über eines der Treppenhäuser sein Ziel. Begegnungsfläche? Platzverschwendung! Stelzen? Quark! Der Berliner Bauverwaltung ist der Mann vom Zuckerhut nicht geheuer. Zahlreiche Änderungswünsche sind die Folge, die der Stararchitekt weitgehend ignoriert. Er hat Zeit und bereits andere Projekte im Kopf – das Riesenwohnhaus Copan in Sao Paulo, die Planhauptstadt Brasilia. Reibereien zwischen Niemeyer und dem Bauleiter verzögerten die Fertigstellung, so dass „Spitzbein“ sich bei Ausstellungseröffnung eben als Rohbau präsentierte. Von außen betrachtet, erinnert das Haus heute ein wenig an Le Corbusiers „Wohnmaschine“ im Berliner West-End, erscheint aber leichter, dank der Stelzen. Allerdings nur ein wenig, denn die Stelzen wurden gekürzt – ein Tribut an die Bauverwaltung.

Das „Spitzbein“ war das erste und letzte Haus, das Niemeyer in Deutschland gebaut hat.

 

André Ullmann