Politische und andere Viren

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterschrieb im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst als Chef des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs. Am 8. Mai 1945 um 23 Uhr war Schluss. Man dankte Stalin. In Moskau war da schon 9. Mai. In meinem Umfeld wurde der Tag der Befreiung stets gefeiert. Anderen galt er als katastrophaler Zusammenbruch. Gegenseitiges Misstrauen saß tief. Wer damals feierte war jünger als ich heute, hatte Nazis bekämpft, Flucht, Exil, Illegalität, Zuchthaus, KZ überlebt. Ein Fest der Sieger, nicht der Besiegten! Kinder sollten nicht in Ruinen spielen, Neues war noch nicht erbaut, doch die Geschichte verwuchs, beklagt wurden Bombenschäden, bei uns galt, dass wegen der Nazi-Verbrechen auch die Teilung des Landes gerecht sei. Ich lebte unter Re-Migranten, Nazi-Verfolgten, Widerstandskämpfern. Die winzige Minderheit befehligte im Auftrag der sowjetischen Sieger die Kommandohöhen der Macht. Während der jetzigen Krise erinnerte die Queen an den Mut ihrer Landeskinder während der Naziplage. Ein Rückblick, der hierzulande ausgeschlossen ist.

Derweil hat weltweit ein Virus unser Leben verändert. Nach Rasse oder politischer Meinung wird niemand ausgegrenzt, aber die Ärmsten trifft es besonders hart. Irgendwann wird er wie seine historischen Vorläufer besiegt. Schon jetzt sind Änderungen spürbar, Solidarität, Homeoffice, Homeschooling, Fernkonferenzen, Monitor- und Handytreffen fast alltäglich, Nähe wird Ferne und umgekehrt, man kommuniziert und arbeitet digital, kocht zu Hause, liest, grämt sich, reist medial durch Theater und Museen, beschränkt sich auf Fensterausblick und Balkonaufenthalt, wenn Spaziergänge ausgeschlossen sind. Soziale Distanz ist das Wort der Stunde. Manche hören nicht hin. In Berlins Mitte gibt´s keine Funklöcher, in Behörden fehlt die technologische Basis. Bei Schulkindern wird sie vorausgesetzt. Ohne Passanten entdecke ich Häuser und Höfe wie neu. Es ist angenehm still. Ich gehe maskiert einkaufen. Meine Überseefreunde staunen, dass das keine Pflicht ist. Ich genieße die Sonne, weiche anderen aus, winke. Im Mai blüht die Hoffnung? Im Mai 1949 planten meine Altvorderen die Rückkehr aus Manhattan. Wegen der dortigen Lage. Und weil sie trotz und wider aller Nazi-Viren auf eine gute deutsch-sowjetische Zukunft setzten. Ich lernte Leipziger Straßendeutsch, spielte in den Ruinen. Die Kriegsfolgen blieben auch in Ostberlin lange unübersehbar. Der Rest ist bekannt.

Irene Runge