Von den Haupt- und Nebensachen

In Mitte tragen viele sockenfrei, weiße Sneaker, schmale, gefranste, 7/8 oder 3/4 Hosen. Meine fast auf dem Prenzlauer Berg wohnende Freundin mailt, sie wäre dessen und des winterlichen Grau in Grau in Mitte-Mitte überdrüssig; Glamour gäb’s nur weiter unten, siehe Berlinale… Die ist vorbei, der Frühling hat schon reingeschaut, im Teehaus „Chen Che“ in der Rosenthaler treffe ich einen alten Freund aus Charlottenburg. Er fremdelt. Niemand älter als 25? Englisch lingua franca? Nur feinste Klamotten? Überflüssiger Überfluss, doziert er, und spaziert im hellen Staubmantel von früher neben mir vergnügt durch die Mulack- zur Münzstraße. Wir klettern bei „Father Carpenter“ auf hohe Hocker, trinken, wie die „New York Times“ empfiehlt, kleine Tassen Kaffee. Berlins Medien berichten, die Leipziger ist Berlins dreckigste Straße. Nur unterm Kaiser war´s dort gemütlich. Die sozialistische Moderne hinterließ zu breite, zu zugige Bürgersteige und Fahrstreifen, der Kapitalismus brachte abgasige Autos en masse. Auch ohne Luftverschmutzung bin ich lieber woanders, ich eile vorbei, durch, vorüber, trotz Meilenstein kein Schlendern, Verweilen, Staunen, dem Fußgängertunnel fehlt die Rolltreppe, bemalte Wände nehmen der Unterquerung nicht den Grusel, aufsteigend gibts altmodische Wegweiser, aber mein Ziel ist zu neu: Der Boulez-Saal mit seiner Kunst für´s Ohr, Freude für´s Auge, Gaumengenuss. Solange es den Durchgang am strahlenden Schloss noch nicht gibt, muss ich anschließend am Nikolaiviertel links durch den finsteren Park. Die östliche Rückseite des Schlosses gemahnt an neue öde Berliner Bürohäuser, sechs nicht leuchtende Laternen lassen auch Marx und Engels im Dunkeln stehen, keine Ampel blinkt, wo ich rennend die Liebknechtstraße überquere. Jetzt ist´s urbaner. Menschen rechts, links, am Wasser, geradeaus, auch Richtung Oranienburger. Zwischen Monbijou- und Tucholskystraße warten über 100-jährige Gebäude auf neue Fertigstellung. Soll hinter´s neugebaute kleine Haus mit doppeltem Rundbogen-Durchgang ein Biergarten? Dicht umzäunt ist das Umfeld des gewesenen Tacheles, durch Astlöcher ein Blick auf die riesige, 17 Meter tiefe Baugrube, Menschen, Bagger, Kräne. Steht das Tor offen, lässt sich mit Glück an ein- und ausfahrenden Lastern vorbeisehen. In Manhattan lenkt Baugeschehen den Blick meist nach oben, lassen sich durch Zaunfenster Details erkennen. Berlin wächst nirgends in den Himmel, aber Zäune müssen blickdicht sein.  

Irene Runge