Wo flanieren wir künftig in Berlin?

Vielleicht in der Bergmannstraße und Kastanienallee? Kaum in der Friedrichstraße. Nur wenn gewohnt wird, lässt sich großstädtisch wie im Kiez hin- und zusehen, einander erkennen, sitzt, steht, geht, plaudert, genießt man das öffentlich. Friedrich, der Flaneur? Motto für 700 Meter vorübergehend autofreie Friedrichstraße, Rad- und E-Tretroller eilen jetzt ungestört. Wer hier arbeitet, spaziert nicht, wer spaziert, hat den Bürgersteig , aber will mehr. Visionär ist nichts, auch nicht, dass Straßentische und Stühle den Umsatz steigern, das Wetter bestimmt, ob 14 Cafés Getränke, Kuchen, Sandwich, Eis, Snacks drinnen oder draußen servieren, man Kaffee trinken, Zeitung lesen, mit Coffee to-go, Handy und Laptop auch in vier holzumrandeten großen Nischen sitzen, gar schlafen kann. Kippen treten sich fest. Das einzige Restaurant heißt „Auf die Hand“, bietet „Feinstes Fastfood“, drei sind es mit benachbartem Fischrestaurant und bayrischem „Maximilians“, Nebenstraßen bieten mehr. Grünes Statement: Vier Mini-Glashäuser, eins mit Kräutern, 65 Kübel-Bäume. Das Russische Haus bleibt Festung, die Schaufenster der Gegend zeigen teure Mode und Schmuck ohne Pfiff. Unterirdisch marmorne Ästhetik, für Boutiquen und Tee-Laden fehlen Kunden, „Lafayette“ punktet kulinarisch, Rewe und Penny wie immer. Nirgends Flaneure in Zwirn und Hut, gelegentlich ein Anzug, die Damen in Jeans. Das Fahrrad ist König, gegen Staunen und die Zufallsbegegnung erzwingt die baustellengelb markierte Fahrbahn den Blick nach vorn. Friedrich, der Flaneur, geht früh schlafen, munter macht Stadtlust, urbane Energie, Neugier auf Nachbarn, Passanten, Lokale, Kinos, Buchläden, Tingeltangel, Oper, Bibliothek, Schloss, Konzerthaus, Hotels und Reklame. Hier kommt man nicht zufällig per Rad, ÖPNV, Auto, kaum zu Fuß an, hier wird kaum gewohnt, Café, Bierstube, Restaurant, Innenhof, Durchgang, Dussmann, Spree-Uferweg sind kaum tradiert. Was ändert sich, wenn die Tacheles-Passage fußläufig Friedrich- und Oranienburger verbindet? Hackescher Markt, Neue, Alte Schönhauser, Münzstraße, Scheunenviertel, verdrängte und erinnerte Vergangenheit, knallig junges Leben, poppige Restaurants, Kinos, Klamotten, Streetfoot sind sehr nah. Hier wohnen auch Alte und Einsame. Verschwunden aus der mittleren Friedrichstraße ist nicht nur der klassische Flaneur, was fehlt ist die gemeine menschenvolle Stadt, sind Blumen, Licht, Lärm, Läden, Lokale… Schade? Schade! 

Irene Runge