Sichtbar ist das Erinnern

Am nördlichen Rand vom Koppenplatz steht seit 1996 eine noch in DDR-Zeiten ausgelobte Bronzeskulptur: Ein Tisch, zwei Stühle, einer scheint wie in Eile umgeworfen. Gedichtzeilen von Nelly Sachs umranden das metallene Parkett. Ein Kind fragt, ob hier gegessen wird und klettert auf den Stuhl. Das lauschige Ensemble regt zur Nachfrage an. Auch über jene Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, vom 9. auf den 10. November 1938. Da war es kühl, neblig, regnerisch, Temperaturen am Gefrierpunkt, am Tage etwa 10 Grad. Diese Nacht heißt "Kristallnacht", war der November-Pogrom. Junge Männer zerstörten systematisch, brandschatzten, plünderten, massakrierten und verschleppten. Am Tage knirschten Glasscherben. Seither gibt es auch in der Kleinen Auguststraße kein jüdisches Bethaus mehr, dafür ein Wandbild. Mitsamt der Erinnerung an die Synagoge ist die ehemalige Kaiserstraße verschwunden. Geparkt wird, wo die Reformsynagoge Johannisstraße stand. Vergessen auch die Synagoge mit fünf Betstuben in der Grenadier-, heute Almstadtstraße. Vor dem alten Friedhof in der Großen Hamburger Straße stand seinerzeit ein jüdisches Altenheim, den Grundriss markieren Bodenlinien, das Frauendenkmal, Entwurf für das KZ Ravensbrück, trägt Steine und Blumen. Nur das im Sommer gefügte Wandmosaik ignoriert die Zeitgeschichte.

Die Touristen stolpern über kleine Messingtafeln mit Namen, Geburtsdaten und Orten der Ermordung jener, die einst auf den gleichen Bürgersteigen spazierten. Gerade wohnte ein schmutziger Obdachloser mit seiner Habe auf zwei Bänken am Koppenplatz. Vor 75 Jahren wäre er als Asozialer deportiert worden. Eilige Tourguides reden vielsprachig über gewesenes jüdisches Leben und übersehen, dass eine neue jüdische Gegenwart nicht mehr nur in der Oranienburger- und Tucholsky-, sondern auch in der Brunnen-, Karl-Liebknecht- und Schlegelstraße institutionalisiert ist. Es wird gelernt und gebetet. Der Kindergarten wird wegen der jungen Jüdinnen und Juden aus aller Welt nicht lange reichen. Am 9. November 1989 unterlag das bisher übliche historische Gedenken der Freude über den Mauerfall, am 9. November 1919 war in Berlins Mitte Revolution. Die Geschichte ist immer konkret.