Wir erinnern

Am 8. Mai 1945 begehen wir den Tag der Befreiung. Unvergessen bleiben die Soldaten der Antihitlerkoalition, die Partisanen und Kämpfer des illegalen Widerstandes. Unvergessen die in den KZs Gequälten, die in unvorstellbarer Zahl Ermordeten, darunter 6 Millionen Jüdinnen und Juden. Wir vergessen auch nicht die für deutsche Kapitalinteressen Missbrauchten. In besonderer Dankbarkeit verneigen wir uns vor dem Sowjetvolk. Es trug die Hauptlast des Krieges – 27 Millionen Opfer.

Der Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel meinte kürzlich, die Sowjetunion hätte den deutschen Vormarsch im Blut der eigenen Leute ertränkt. Was für eine Dreistigkeit, bar jeder Empathie. Hätte die Sowjetunion kapitulieren sollen, am besten schon vor Moskau? Oder im eingeschlossenen Leningrad oder eben in Stalingrad? Hätte die Losung nicht ausgegeben werden dürfen: Hinter der Wolga gibt es kein Land? Sie hätten ihre Leute nicht geschont, wird der Sowjetunion vorgeworfen. Über 600 Dörfer wurden allein in Belorussland dem Erdboden gleichgemacht. Die bestialischen Vernichtungsaktionen wurden mit Partisanenaktivitäten begründet. Muss man nun die Legitimität des sowjetischen Partisanenkrieges in Frage stellen? Nein: Die gewaltigen sowjetischen Opfer hat der deutsche Faschismus zu verantworten. Sie zeugen davon, wie ernst es den Faschisten war, als sie von einem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sprachen. Sie führten ihn.

Die Demagogie Neitzels ist ebenso unfassbar wie der Umgang der Bundesregierung mit einer Anfrage zum gleichen Thema durch Sevim Dağdelen. Sie fragte, ob der Überfall auf die Sowjetunion aus Sicht der Bundesregierung grundsätzlich ein verbrecherischer Angriffskrieg bleibt, den Nazideutschland ohne jede Not eröffnete. Die Antwort: »Die Einordnung damaliger militärischer Handlungen der Wehrmacht als verbrecherisch im strafrechtlichen Sinne ist einzelfallbezogen vorzunehmen.«

Einzelfallbezogen! Wer so mit 27 Millionen Opfern umgeht, dem ist jegliche Demut vor den Toten und deren Kindern und Kindeskindern fremd. Es darf nicht weiter Hass gegen Russland geschürt werden. Es bedarf der Wiederherstellung vernünftiger, respektvoller Beziehungen zu diesem leidgeprüften Land.

Ellen Brombacher