Wer braucht zum Spazieren eine Fahrradtrasse?

Als ich als Kind nach Ost-Berlin kam, spazierte man am Wochenende durch Schloß- und Bürgerpark. Kriegsbedingt ohne den deutschen Mann. Sonnabends war Schule, Läden machten mittags zu, fünf Pfennig hießen Sechser, dafür gabs `ne Schrippe, das Kinderkino kostete 25. Mädchen hatten Zöpfe, Sonntagskleider, weiße Kniestrümpfe, Hütchen, Jungen wurden lange Hosen schnell zu kurz. Meine New Yorker Kinderkleidung passte nicht zur jungen DDR. Jeans verboten. Sonntagsstaat und bürgerliches Flanieren verschwanden auch ziemlich schnell.

Jetzt erlebe ich, dass die gute Berliner Luft wieder was wert ist. Familien, Paare, Kinder, Einzelgänger, Radfahrer, Jogger, Hunde ziehen coronabedingt an sonnigen Wochenenden ziellos durch Tiergarten, Monbijou, Regierungsviertel, Gegenden wie Nordbahnhof und Alte Münze, Museumsinsel, Linden, Schlossumfeld, Friedhöfe, Spiel- und Sportplätze, Spreeufer, Kanäle, Brücken, Brandenburger Tor, Marienkirche, Rotes Rathaus, Nikolaiviertel… Gesucht wird die verlorene innerstädtische Nähe. Fontane schreibt davon, auch über die Friedrichstraße, Sitte und Brauch. In der jetzigen „Berliner Zeitung“ misstraut Architekt Wolf R. Eisentraut historisch, logisch und emphatisch dem jetzigen Autofahrverbot, auch wegen fehlender „stadträumlicher Qualität für fußgehende Menschen“. Für ihn ein „missglücktes städtebauliches Provisorium“, er mutmaßt hinter der „bequemen und störungsfreien Fahrradtrasse“ geifernde politische Strategen. Auf der Friedrichstraße, in einst schmucken Nebenstraßen, auf Gendarmenmarkt, Potsdamer Platz - nirgends Anreize auf Augenhöhe. Kann Eisentrauts „Menschenstadt“ der bürokratisch philisterhaften Stadt(bau)politik Sympathien abringen? Immerhin wächst an nördlicher Friedrich- und westlicher Oranienburger privat, offiziell eher ungeliebt, das Tacheles-Baukunstwerk verquer, mit kleinen, großen Häusern, Zwischengassen, Durchgängen, Denkmalschutz. Die konventionelle Moderne wirkt teuer, Baugrund verengt, durch den Bauzaun sieht man dennoch Menschenmaß, absehbar sind Geschäfte, Cafés, Restaurants, Schaufenster, Unterhaltung. Hier werde ich gehen, sitzen, lesen, essen, gesehen. Mit Postfuhr- und Telegrafenamt, Hackescher Markt, Museumsinsel, Schloss, Spreeufer fegt sich hier eine neue alte Mitte. Die einst ehrwürdige Friedrichstraße, a-historisch halbiert, teils autofrei, passt trotz Friedrichstadtpalast leider noch nicht ins Bild.

Irene Runge